6. August 2009

Ich stehe unter der Dusche. Ich weiß nicht wie lange schon, denn wenn einem die Gedanken kreisen hat man kein Zeitgefühl mehr. Es müssen aber mindestens schon 30 Minuten sein. Ich wasche mich, zwei-, drei-, viermal. Ich muss diesen Geruch loswerden. Meine Gedanken kreisen erneut. Was war da nur passiert heute? Ich greife erneut zur Seife. Ich muss mir den ganzen Tag abwaschen.

[Rückblende]

Es ist 18:50 Uhr. Ich stehe inmitten einer Traube von Menschen. Ich frage meine Freunde: "Und wie wird das jetzt laufen?" Ein Mädel vor uns dreht sich um: "Zum ersten Mal hier oder was??" Es kommen mir die ersten Zweifel. Gehen hier ständig Leute hin? Wie oft gibt es dieses Event?? Eigentlich hat sie ja recht. Ich warte in der Schlange zum großen Ikea Krebsessen in der Sindelfinger Filiale. Ja, ich bin das erste Mal zu einem Krebsessen, mit Vorfreude. Denn es ist etwas Neues und die vielen Menschen machen es zu etwas Aufregendem.




Die Schlange setzt sich in Bewegung. Man bekommt ein Bändchen verpasst, für normalsterbliche Ikea-Kunden ist heute nichts zu holen. Nur mit der Ikea Family Card und den zugehörigen Eintrittskarten geht's weiter. Ein Freund hatte mich überredet. Nein... das ist falsch. Er hatte mich gefragt und ich war neugierig, naiv, voller Vorfreude und voller Unwissenheit.


Ich witzelte über die Hüte und Lätzchen, die auf jedem Platz verteilt waren. Viele Leute zogen sie an und machten sich erstmal zum Depp. Es schien auf Anhieb ein spaßiger Abend zu werden. Doch irgendwas war seltsam. Schon die Anleitung zum Krebsessen und die vielen Trinklieder waren seltsam. Aber hey: Das ist neu - das ist anders - das muss so.




Auf einmal geht alles ganz schnell. Der Startschuss fällt, die Masse stürmt zum Buffet, ich schließe mich ihr an. Schnell ist der Teller beladen und man ist zurück am Platz. Ich nehme behutsam eins der toten Tiere in die Hand - und jetzt? Es wird mir vorgeführt. Ahja, so probiere ich das auch. Es geht aber nicht. "Du brauchst schon ein bisschen mehr Kraft!" Also probiere ich es mit mehr Kraft. Die Kruste, die das Tier ein Leben lang schützt, bricht. Die Innereien kommen zum Vorschein. "Das gelbe ist die 'Butter', das ist das Leckerste!" wird vom Mikrofon gerufen. Ich probiere etwas. Schmeckt nicht ganz schlecht. Schnell landet die erste Schale in der Abfallschüssel. Und die nächste, und die nächste. Bis mein Teller leer ist.

Ich gehe erneut zum Buffet. Der Andrang ist groß, das McDonald's-Syndrom ist größer. McDonald's-Syndrom? Wenn sich alle Menschen bei der ersten großen Schlange anzustellen ohne vorher alle Möglichkeiten abzuchecken; am besten zu beobachten bei McDonald's. Ich gehe an der ganzen Schlange vorbei zur Mitte des Buffets und nehme mir erneut ein paar Krabben.


Die letzte Kruste bricht. Ich schaue auf das Tier. Die Welt um mich herum gefriert. Ein Zoom auf mein Gesicht. Ich blende alles aus. Da ist dieses Tier vor mir, tot, aber es schaut mich mit seinen leblosen Augen an. Ich habe ihm gerade das Rückrad gebrochen und sauge seine Innereien auf. Vor Schreck lasse ich die Krabbe fallen. Ich schaue mich um, hunderte Leute schlingen in sich rein. Ich höre mich um, überall brechen Krusten oder Scheren.

Oh mein Gott...

Was tue ich hier?

Wieviele tausende Krabben mussten für ein paar hundert Menschen sterben? Ein Glück gibt es auch Fleischbällchen, die mich durch den Rest des Abends begleiten. Für mehrere hundert Fleischbällchen musste eventuell nur eine Kuh ihr Leben lassen. Eins dieser Bällchen hat mehr Fleisch als eine Krabbe. Für dieses Event mussten tausende dieser Tiere ihr Leben lassen. So viele leblose Augen. Aber so wenig Fleisch rechtfertigt nicht die Tötung eines solchen Tiers. Die Leute kümmert es nicht, denn es ist nicht nur ein Event, es ist ein Fest, eine Schlachtung. Mit Live-Musik und Zelebration. Es gibt Leute, die freuen sich hierrauf.

Erst die Neugier, dann der Schock, jetzt der Horror. Ich halte da ein Tier in der Hand und breche ihm die Kruste auf. Viele müssen nicht mal hinschauen, sie könnten das im Schlaf. Andere haben gleich ein nussknackerähnliches Werkzeug mitgebracht, der Krabbenknacker. Es knackt und cruncht in der Umgebung. Ich kann nicht mehr, das ist barbarisch. Eine Kuh macht mehrere Menschen satt, eine Krabbe spürt man nicht mal im Magen. Ich frage eine Angestellte, was denn mit den Krusten passiert. "Nichts... was willst du denn damit noch machen?". Über 2 Drittel der toten Tiere werden vergäudet und landen auf dem Müll. Ihre leblosen Hüllen sind nur noch Abfall. Was für eine Verschwendung nur für diesen kurzen Genuss.

Ich stelle mir vor, wie das Menschen fänden, aufgekocht zu werden, die Knochen gebrochen zu bekommen, zu einem kleinen Teil gegessen zu werden und dann auf dem Müll zu landen. Das war es für mich, aber am Tisch geht es noch weiter. Der Teller meiner Nachbarin leert sich rasant. Sie ist so eine, die nicht mehr hinzuschauen braucht. Der neue Teller kommt schon, die Abfallschüssel füllt sich. So viele Tiere...



Ich stehe noch unter Schock. Die Liveband, die als "Duo... äh Trio... Duo Trio" oder so angekündigt war, spielt schwedische Trinklieder. Krustentiere verstümmeln und saufen, so wird's gemacht. Man holt mich zurück in die Realität. Es geht zum "Schwedendreh", ein Glücksrad. Beim Schwedendreh ist die schwedische Flagge die Niete. Seltsam, sollte irgendwie der Hauptgewinn sein, denke ich. Ich gewinne eine hübsch gestaltete Thermoskanne. Auf dem Weg zum Platz sehe ich nochmal das ganze Ausmaß. Das Buffet immer noch vollgeknallt mit tausenden Leichen, die Menschen immer noch am Fressen. Schrecklich.

Es gibt Schnaps, aber ich trinke keinen Alkohol. Duo Trio stimmt Trinklieder an; anders als im Volksfestzelt, aber genauso schlecht. Die Band gröhlt "Dieter", die Männer gröhlen nach. Die Band gröhlt "Helga", die Frauen gröhlen nach. Unter was für Menschen bin ich geraten? Eigentlich will ich ihnen das Treiben nicht übelnehmen. Ich kann sogar verstehen, dass Krabben als Delikatesse gelten, es hat ja nicht schlecht geschmeckt. Aber das hier ist für mich eine Massenvernichtung, ein Horrorszenario, ein B-Movie-Plot.

Andererseits will ich auch niemanden den Spaß verderben. Es ist halt ein Event. Ich treffe für mich die Entscheidung: Nie wieder. Es war eine Erfahrung. Eine negative Erfahrung. Und das nächste Mal finde ich mich sicherlich unter den Gegnern wieder. Manchmal braucht man so eine Erfahrung, um zu wissen, dass man etwas nicht mehr machen will. Nie wieder könnte ich einem Krustentier, tot oder lebendig, einen Arm aufreißen oder den Panzer spalten. Nie, nie, nie wieder.

Richtig bitter ist es, dass ich gerade von Galapagos wiederkomme, wo quasi alles geschützt ist, auch Krabben. Mit Faszination habe ich diese Tierchen beobachten. Wie sie vor den Wellen flüchten und sich sonnten. Mit keiner Silbe habe ich vor diesem Ikea Krabbenessen daran gedacht. Jetzt gehen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Dazu dieses Geräusch von brechendem Chitin.


Auf dem Rückweg rieche ich an meinen Händen. Dieser Geruch wird mich verfolgen, genauso wie die leblosen Augen. Ich sehe das Schild vor mir: "Wir nehmen es zurück." Am liebsten würde ich morgen früh in den Ikea gehen, bei der Kasse meinen Finger in den Hals stecken und ordentlich hinreiern. "Doch nicht zufrieden". Ich muss mich duschen. Am Besten stundenlang. Damit dieser Geruch von mir abgeht. Und diese Erfahrung weggespült wird. Doch so leicht geht das nicht. Sie wird mich prägen, und das ist gut so.

Nie wieder Krabbenessen. Dass Ikea das zu so einem Event aufbaut nehme ich denen ganz übel. Die Menschen dort sollten es besser wissen, aber es ist deren Entscheidung. Barbarismus, ohne mich. Für diesen Genuss besitze ich zu viel Menschlichkeit. Das musste ich heute lernen. Aber ich bin froh darüber.

[Gegenwart]

Ich stelle das Duschwasser immer heißer. Genauso fühlt sich wohl eine Krabbe. Die nächsten Wochen werde ich wohl vorsichtiger essen. Für Fleisch müssen Tiere sterben, das ist halt so. Für Genuss aber nicht unbedingt. Trotz des kochend heißen Wassers läuft es mir kalt den Rücken runter. Schauderhaft ist der Blick in menschliche Abgründe. Das heute musste sein, für die Einsicht...

nie wieder

nie nie nie

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wow, da hat ja mal einer gar keine Ahnung.

Ja, der Krebs, die Krabbe, der Hummer, der Schrimp ist noch lebendig, wenn er in den Topf wandert.

Was hast du den gedacht?
Das Huhn ist auch nicht richtig tot.
und auch bei Schweinen und Rindern geht der Bolzenschuß mal daneben und sie sterben erst, wenn man ihnen Halsadern aufschneidet.

Wie alt bist du?
Mach die Augen auf und sieh dich um!!

Maith hat gesagt…

Ich hatte keine Ahnung ^^
Das sind Erfahrungen, die man macht. Deswegen geh ich dahin und schreib darüber. Meine Augen sind offen.

Es ist halt ein Unterschied, ob man ein abgepacktes oder zubereitetes Stück Fleisch hat, oder ein totes Tier. Das ist ein ganz normaler psychologischer Effekt. Deswegen heben wir nicht mal die Augenbraue wenn tausende in Syrien sterben, aber wenn's Omi erwischt, ist es das Schlimmste auf der Welt.

Betroffenheit ist was Menschliches und hätt ich's nicht einmal mitgemacht, wüsst ich's immer noch nicht. Erfahrungen haben nichts mit dem Alter zu tun, welches du übrigens kennen würdest, wenn du hier irgendwas lesen würdest.

Wenns dich aufregt, warum dann überhaupt die Mühe machen und kommentieren? Leb dein Leben und frag Leute nach ihrem Alter anstatt deine Zeit hier zu verschwenden :)

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