4. September 2010

Jede Stadt sollte froh sein, wenn die Gleisanlagen unterirdisch sind, aber dass man dafür gleich Park und historische Gebäude zerstören muss...

Dieses Zitat stammt von meinem Vater. Ich fühle mich fast genötigt hier ein paar Worte zu Stuttgart21 oder S21 oder wie man das ganze Projekt auch nennen mag zu sagen. Vorneweg, ich möchte hier so neutral wie möglich sein, weil ich weder alle Argumente der Pro- noch die der Gegenseite kenne. Das Ganze ist einfach viel zu vielschichtig, um einfach so zu pauschalisieren, zu beschimpfen oder sonst etwas zu machen, was aber viele Anhänger und Gegner tun.

Mein Problem: Sobald ich mich mit so etwas beschäftige, sagt mein Gehirn "Du müsstest eigentlich deine Bachelor-Arbeit schreiben" und killt damit quasi jeden kreativen Gedanken. Das spiegelt sich auch hier wieder an der Anzahl und Qualität der Beiträge, was der regelmäßige Leser sicher bemerkt hat.

Zurück zum Thema. Stuttgart21 ist ein Bahnprojekt. Wer noch nichts davon gehört hat, lebt hinter dem Mond oder jedenfalls nicht in Deutschland. Ich empfehle zur Wissensauffrischung oder zum -erwerb den Wikipedia-Artikel. Je nach Tageszeit und letztem Bearbeiter mal Pro, mal Kontra ;)

Ich muss ganz ehrlich sagen, ich sympathisiere mit den Demonstranten, quasi mit den Gegnern. Ich bin aber nicht gegen S21. Ich bin sogar dafür, dass diese hässlichen oberirdischen Gleise wegkommen. Sie behindern die Stadtentwicklung von Stuttgart. Allerdings darf dafür nicht vorhandene Stadt drunter leiden, und das tut sie. Was hier mit dem Denkmalschutz passiert ist unfassbar.

Ich mag das Bahnhofsgebäude nicht, ich finde es sogar hässlich und von mir aus könnte das ganze Dinge samt Stern gerne weg, aber nochmal: Das Ding ist denkmalgeschützt! Es wurde sogar überlegt, es zum Unesco-Welterbe zu erheben. Das hat schon seinen Grund. Es ist kulturell wertvoll. Warum ich dann trotzdem gegen den Abriss bin, obwohl ich den Bahnhof nicht mag. Ganz einfach: Ich finde den Cotopaxi-Nationalpark auch nicht schön. Da gibt es kaum was. Aber es ist trotzdem ein verdammter Nationalpark. Das hat seinen Grund, damit da nicht einfach so Zeugs hingebaut wird. Damit die Natur gewahrt wird. Genauso wird mit dem Bahnhof Kultur und Stadtbild gewahrt. Ist einfach so. Vom Schlossgarten und vom Planetarium will ich mal gar nicht erst anfangen. Das ist eine Riesensauerei. Das regt mich richtig auf, weil der Schlossgarten für mich wirklich Stuttgart ist. Etwas, was diese Stadt lebenswert macht wird da Beschnitten.


Die Sache mit der Unumkehrbarkeit und dass die Demonstranten in der Minderheit sind, ist einfach politischer und medialer Bullshit. Wenn eine Stadt wie Stuttgart 50000 Menschen dagegen mobilisieren kann, dann ist das ein deutliches Zeichen. Natürlich sind das nur 9% der Einwohnerzahl von Stuttgart, aber wer bitteschön hat zuletzt in Stuttgart fünfzigtausend Menschen mobil gemacht. Bei einem Thema wie Umweltschutz (was uns alle interessiert und wo praktisch jeder dafür ist) kommen nicht mal 1000 Leute. Und da sollten dann doch definitiv mehr sein. Fünfzigtausend ist ein starkes Stück, ganz einfach.

Das Problem ist mittlerweile aber, dass die Diskussionen am Kern der Sache vorbei gehen. Da gibt es Beschimpfungen, falsche Argumente oder halt nur heiße Luft. Auf beiden Seiten. Um das mal mit dem Werbesprech auszudrücken: Es stimmt, dass die Tunnel für S21 grundwassertechnisch bedenklich sind; es stimmt aber auch das Stuttgart durch die Straßenbahn und gutes und sogar tieferes Tunnelsystem bereits besitzt. Es stimmt, dass ein Durchgangsbahnhof den Bahnverkehr beeinflusst; es stimmt aber auch, dass die Zeiteinsparung gleich null ist. Je 4 Argumente, einmal gewinnt die Pro-Seite, einmal die Kontra-Seite, oder jedenfalls tendiert man dazu.


Leute, die sich nur aufregen, dass es jetzt Demos gibt, es zu Behinderungen in der Stadt kommt und das lauthals verkünden müssen, nerven einfach nur. Weil sich zigtausende Leute erstmal über die Verspätungen, Behinderungen und Verzögerungen im Bahnverkehr aufregen werden, wenn es erstmal an die Gleise geht (Siehe den jetzigen S-Bahn-Fahrplan). Proteste und Demonstrationen sind einfach Demokratie und ein probates Mittel um die Politik aufzuschütteln. Proteste und Demos gegen das Projekt gab es schon früher. Die hat bloß keiner wahrgenommen. Genauso wie es schon Bauarbeiten für S21 gab, die bis zum Abriss des Nordflügels keiner wahrgenommen hat. Das Thema wird erst für uns interessant, wenn es akut ist und/oder durch die Medien gepusht wird. Eine Demo muss aufrütteln, aufmerksam machen und Leute anpissen, sonst hat sie keine Wirkung. Schließlich würden diese Leute ja auch auf die Straße gehen, bei einem Thema was sie bewegt. Oder lassen die sich etwas einfach so wegnehmen, was sie lieben. Die Gesellschaft lebt.


Was mich an den ganzen Leuten nervt, ob Pro oder Contra, ist dass die meisten sich trotzdem nicht differenziert damit auseinandersetzen. Auf beiden Seiten erkenne ich Leute, die mich pauschal als Kinderschänder bezeichnet haben, als ich mit meinem Piratenpartei-Tshirt rumgelaufen bin und das kann einfach nicht sein. Leute, beschäftigt euch damit, bevor ihr eine Meinung sagt. Sonst ist es ja einfach für die jeweils andere Seite eure Argumente zu entkräften. Aber wenn sowas dann passiert, dann stecken alle auf einmal die Finger in die Ohren und machen "Lalalalala, ich bin ja so taub für eure Argumente". Es ist doch auch hier ganz einfach: Beide Seiten liefern Geschwätz, ist nur eine Frage des Standpunkts.

Das nächste Thema für mich ist Geld. Klar, es dreht sich immer um Geld. Dieses Geld irgendwo angelegt oder nach Pakistan geschickt oder in den Umweltschutz gesteckt wäre soviel besser angelegt für die Zukunft. Egal ob jetzt 5 oder 10 Milliarden. Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass der Bahnhof vor fast 100 Jahren das letzte Mal erneuert wurde. Wenn ich die 5 oder 10 Milliarden Euro auf 100 Jahre hochrechne, dann ist das Geld auch in diesen Bahnhof jedenfalls nicht "verschwendet". Trotzdem täte ich lieber 5 Milliarden Euro in Pakistan bei den Flutopfern sehen als 5 Millionen. Dann lieber die ganzen Kosten der Bahn aufbrummen anstelle dem Steuerzahler über den Staat. Aber letztendlich ist es wieder nur so ein Prestigeprojekt oder ein Denkmal setzen von alten Säcken in Anzügen, die sich daran bereichern aber dafür mit Stock im Arsch und ohne Eier in der Hose rumlaufen.

Gespräche anbieten und dabei weiterbauen wollen, ist einfach nur lächerlich und armselig. Das zeigt ja gleich, dass die Gespräche zu nichts führen sollen, außer die Leute ruhig stellen. Es muss auch eine Möglichkeit geben, andere Lösungswege zu suchen. Sonst macht Politik keinen Sinn. Es gibt immer mehr als nur einen Weg. Ebenso ist es feige mitten in der Nacht heimlich Bauzäune aufzustellen oder anfangen abzureißen und dann zu sagen "Jetzt wurde begonnen, jetzt können wir auch nichts mehr machen". Genauso wie die Kampagne "Die guten Argumente überwiegen". Wenn ich schon so eine Kampagne brauche, um dem Pöbel genau das zu sagen, weiß doch jeder halbwegs intelligente Mensch, dass die guten Argumente wahrscheinlich gar nicht überwiegen. Aber vorsichtshalber schreiben wir das mal, wird schon jeder glauben. Auf der anderen Seite ist die Umdichtung von "Freude schöner Götterfunken" von den Protestlern mal richtig grottig. Ein No-Go! Klar hat auch jede Seite ihre Studien und Belege, aber wie getürkt das ist, wissen wir ja sicher alle. Jede Studie hat ihr Anti-Gutachten.


Mit dem Baudauer von 9 Jahren bin ich auch nicht einverstanden. Genauso wie das veranschlagte Budget wird das sicher sowieso nicht eingehalten. Neun Jahre. Das ist heftig. Vor allem die Umweltbelastung durch die Bauarbeiten. In Stuttgart darf man ja seit Kurzem nur noch mit Grüner Plakette fahren, aber die Baufahrzeuge haben alle Gelbe oder Rote. Beim Umweltschutz gibt es also wie beim Denkmalschutz Sonderregeln. Ist alles eine Auslegungsfrage. Im Bahnhof wurden ja jetzt auch geschützte Fledermäuse entdeckt, mal sehen ob es da eine Sonderregelung gibt. Vor Kurzem sollte der Bahnhof Zeulenroda abgerissen werden (das war dringend nötig) und es wurden dort Fledermäuse entdeckt. Sofort wurden alle Baumaßnahmen gestoppt. Und in Stuttgart?? Wenn Zeulenroda sowas kann, kann das auch Stuttgart? Welche Stadt ist denn nun "größer"??

Ich war jetzt schon öfter am Hauptbahnhof und habe mir den Zaun angeschaut. In Diskussionen habe ich mich noch nicht verwickeln lassen. Trotzdem ist die Atmosphäre dort immer recht locker. Die Polizisten lassen mit sich reden, die Diskussionen sind angeregt, manchmal auch hitzig, aber nie so, als wollte jemand Terror machen oder Unruhe stiften. Von Schwarzem Block ist auch keine Spur, von daher ist gegen die Belagerung dort eigentlich nicht viel zu sagen. Der Bauzaun ist toll und ich wünschte ich hätte die Zeit ihn komplett zu fotografieren. Der Zaun als Pilgerstätte


Das ganze Theater ist sehr schön auf Twitter nachzuvollziehen, besonders @Pro21Stream und @Schrott21 geben sichs schön. Manchmal intellektuell, manchmal unter die Gürtellinie, manchmal hat der eine bessere Argumente, manchmal der andere, aber es ist immer recht unterhaltsam und manchmal sogar tragisch-komisch, was die beiden sich liefern. Auch viele andere Nutzer sind aktiv. Ich habe von allen, die direkt mit S21 zu tun haben und ausschließlich darüber twittern eine Liste erstellt, der man folgen kann: www.twitter.com/Maith/s21 Kommentare natürlich erwünscht. Auf Facebook und anderen Medien sind alle natürlich auch sehr aktiv. Eine schöne Sache, wie die Menschen jetzt entdecken, solche Sachen zu nutzen. Einen schönen Artikel namens Protest 2.0 hat die Stuttgarter Zeitung gebracht. Und auf www.fluegel.tv (früher webcam.schrem.eu) kann man sich ein Bild des Ausmaßes der Abrissarbeiten machen. Mit Kontraargumenten natürlich. Und auch witziger Diskussionen im zugehörigen Chat ;)

Ob Stuttgart21 jetzt kommt oder nicht, wer auch immer Recht hat - die Debatte ist gut und wichtig. Genauso wie die Demonstrationen und Protestaktionen. Es zeigt, dass die Menschen nicht alles schlucken in unserer Demokratie, dass sie sich mit den Dingen noch auseinanderzusetzen und dass sie bereit sind dafür zu kämpfen. Das ist eine gute Sache. Ich wäre gerne öfter dabei, wenn auch nur zum Beobachten, denn wie schon gesagt: Im Moment ist mir das Thema viel zu vielschichtig, als dass ich es jetzt durchdringe. Ich habe nur eine Meinung, aber die werde ich ganz bestimmt nicht zu Argumenten ummünzen, denn dann bin ich so schlecht wie die anderen.


Meine Meinung:
  • Kopfbahnhof: Nein
  • Durchgangsbahnhof: Ja
  • Abriss des Bahnhofs: Nein
  • Umgraben vom Schlossgarten: Nein
  • Kosten: Nein
  • Proteste/Demos: Ja
  • Hirnloses Angiften ohne fundierte Argumente: Nein
  • Sich kritisch damit auseinandersetzen: Ja
  • Neues bebaubares Stadtgebiet: Ja
  • Oben bleiben: Nein
  • Gleiserneuerung: Ja
  • ICE-Haltestelle beim Flughafen: Ja
  • Neubaustrecke Wendlingen–Ulm: Wayne?
  • Baufahrzeuge mit Umweltbelastung: Nein
  • Fledermäuse: Ja


Es wird noch viel gebloggt, getwittert, diskutiert und protestiert werden. Ich bin gespannt und vielleicht ändert sich meine Meinung ja in dem ein oder anderen Punkt.

1 Kommentar:

anja hat gesagt…

Guter Artikel, wunderbar umgesetzt :)

Zu Neubaustrecke Wendlingen–Ulm: Wayne? sag ich noch, dass ich es so oder so hirnrissig finde, das im Allgemein als Argument anzusetzen, dass man nur S21 braucht um das umsetzen zu können. Ich frage mich da wirklich nach einem Warum und habe bisher nirgends gelesen, was der genaue Zweck ist. Schnellere Strecke und einige Minuten kürzer fahren ist ja schön und gut, aber deswegen ein Milliarden-Projekt? Seltsame Sache...

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